„Ich nehm den STIGLER“
Die spektakulärsten Dinge im Leben sind doch die Unvorhergesehenen.
Da bekomme ich ein Schreiben von einem Enkel des letzten Augusto Stigler, Inhaber der Officine-Mechaniche-Stigler, des einst weltweit bekannten Aufzugsfabrikanten aus Italien.
Was, der Name sagt euch gar nichts? Das werden wir ändern, denn Marco Stigler hat uns einiges über das einstige Familienunternehmen erzählt.
Vor 150 Jahren in Rom
Wir schreiben das Jahr 1871 in Italien. Im Grand Hotel Costanzi in Rom wird gerade der erste Personenaufzug der Firma Stigler in Betrieb genommen. Viele weitere Tausend werden folgen. Und das nicht nur in Italien, sondern rund um den Globus. Denn neben dem Innovationsgeist, wusste die Familie Stigler sich als eines der ersten Unternehmen bereits Ende des 19. Jahrhunderts Global zu präsentieren.
Mittels Vertretern und eigenständiger Lizenznehmer im Ausland, welche die „Original“ Stigler Aufzüge an die betuchten Leute brachten, wurden Aufzüge in Südafrika, Ägypten, Indien, Japan und sogar Brasilien errichtet.
In Wien übernahm diese Lizenz Herr Ingenieur Theodor d´Ester ab 1891.
Mit aufwendig gestalteten Broschüren wurde auch fleißig Marketing betrieben.
Besonders die Anzahl der weltweit installierten Aufzüge und Erwähnung prestigeträchtiger Bauten finden hierbei Erwähnung.
1910, 10.000 installierte Stigler Aufzüge, 1920, 20.000, 1930, 35.000 und bis zur Übernahme 1.1.1947 durch Otis wurden nicht weniger als 44.412 Original Stigler Aufzüge hergestellt und installiert. Über 850 davon in Wien.
Die Oberschicht als wichtigster Kundenstock
Was sich jedoch besonders zu Beginn als sehr wichtig erwies, war der Sinn Augusto Stigler Seniors Kontakte zur italienischen Oberschicht zu pflegen. Dies erleichterte ihm den Aufbau von Geschäftsbeziehungen um ein vielfaches. Und als letztendlich sogar ein Aufzug für den Papst persönlich im Vatikan installiert wurde, war das Eis restlos gebrochen.
Die weite Verbreitung der Stigler Aufzüge in den mondänen Grandhotels Europas führte dazu, dass der Name Stigler große Bekanntheit in der Oberschicht erlangte.
Es wurde Gepflogenheit als Synonym für eine Liftfahrt„ Ich nehm den Stigler“ zu sagen, was den immensen Einfluss der Officine-Mechaniche-Stigler am Aufzugsmarkt in Europa widerspiegelt.
In der Vergangenheit blättern
Aber nun wieder zurück in die Gegenwart im Café-Comet in Wien Neubau.
Marco Stigler legt einen braunen Aktenkoffer aus Leder auf den großen Holztisch.
„Ich habe euch da einiges Interessantes aus meiner Sammlung mitgenommen was euch interessieren könnte“
Es waren Produktkataloge wie sie die Vertreter einst den Interessenten vorlegten um sich über Kabinentypen und Maschinen ein Bild machen zu können. Unglaublich so ein Dokument in Händen zu halten.
Die größte Überraschung dabei, es waren auch zwei Abbildungen von Wiener Paternoster-Anlagen abgedruckt. Eine davon sogar „unsere“ aus dem ehem. Wiener Bankverein am Schottentor, was für die anstehende Restaurierung sehr wertvoll ist.
Stigler zu Gast in Wien
Marco kontaktierte mich vor wenigen Wochen, ob es möglich wäre unser Museum zu besichtigen. Sein Vater war der letzte Chef der Officine-Mechaniche-Stigler Werke in Mailand, welches von 1860 bis 1947 als Familienunternehmen existierten. Er würde sich sehr freuen uns mehr über die Aufzugsdynastie Stigler zu erzählen.
Nichts lieber als dass, dachte ich beim Lesen der Zeilen. Und so fanden sich vier Familienmitglieder mit Familiennamen Stigler bei uns im Aufzug-Depot in Orth an der Donau ein. Mit Marco kam auch sein jüngerer Bruder Oliver, beide ließen sich zu einem Gruppenfoto in unserem im Café-Comet ausgestellten Original-Stigler-Aufzug überreden.
Die Familie Stigler
Marco ist der dritte von insgesamt fünf Kindern des Augusto Stigler III.
Die Nummerierung in Zahlen kommt daher, das die erstgeborenen Söhne immer den Namen Augusto bekamen.
Augusto Stigler Sr., eigentlich geboren in Deutschland, zog mit 18 Jahren nach Zürich, wo er sein Studium zum Ingenieur 1857 abschließt. Doch es zieht ihn weiter nach Italien, wo er nach einigen Praxisjahren in einem Ingenieurbüro, 1860 die Officine-Mechaniche-Stigler in Mailand gründete, um seine Ideen umzusetzen. Diese drehen sich anfangs um Pumpen woraus im Jahr 1871 der erste hydraulische Lift hervorgeht.
Sein Sohn Augusto Stigler II, übernahm das Ruder 1884 und zeigte sich als besonders innovativ und experimentierfreudig. 1898 wurde der erste elektrisch angetriebene Stigler-Aufzug in Betrieb genommen. Aber die Elektrizität beflügelten seine Gedanken auch in anderen Bereichen. Die Elektromobilität wurde in den 1920er jähren sogar zu einem eigenen Betriebszweig.
Augusto Stigler III, Marcos Vater, war ein hervorragender Experte der Aufzugstechnik, war aber auch mit dem Aussenhandel engagiert und reiste viel im Ausland. Er führte auch die Filiale in Rom ohne viel Kontakt zum Mailänder Fabrikssitz.
Das schrittweise Ende der Officine-Meccaniche-Stigler
„Ich habe das Gefühl, da sind in den späten 1930er Jahren die falschen Leute ans Ruder in der Firma gekommen“ erzählt uns Marco. Denn dadurch, daß die Leitung des Mailänder Werks zwischen Vater und Sohn nicht rechtzeitig übergeben wurde, führten nach dem Rückzug von Augusto II aus dem aktiven Geschäft, andere Geschäftsführer den Betrieb weiter.
1943 schließlich wurde das Stammwerk nahe dem Mailänder Bahnhof von der amerikanischen Luftwaffe quasi dem Erdboden gleich gebombt. Davon erholte sich die Officine-Meccaniche-Stigler nicht mehr. 1947 wurde sie von Otis aufgekauft und fusionierte zu Stigler-Otis.
Unter diesem Namen wurden bis 1987 Aufzüge in Italien installiert. Danach verschwand der Name Stigler endgültig.
Augusto Stigler III schied nach der Übernahme durch Otis aus dem Geschäftsbetrieb aus und gründete 1955 unter dem Namen Augusto Stigler Jr. nochmals in Florenz ein Unternehmen in der Branche.
Dies existierte jedoch nur bis 1960.
Das Stigler Stammwerk – Mailand
Was den Geschäftsbetrieb in der Anfangszeit betraf, war eine klare Entscheidung von Augusto Stigler Sr., er wollte alle Teile, welche für den Aufzugsbau notwendig waren vom Rohmaterial bis zum fertigen Produkt selbst herstellen.
Auf einem mitgebrachten Grundrissplan des nicht mehr existierenden Produktionsgebäudes nahe dem Mailänder Bahnhof konnte man sehr gut die einzelnen Bereiche ablesen.
Holzlager, Gießerei, Seilkammer, alles war vorhanden. So wurden Holz- und Metallkabinen, Elektromotoren, Seile selbst nach eigenen Plänen hergestellt und so eine Unabhängigkeit von Fremdfirmen erreicht.
Auch eigene Konstruktionen und Patente konnten so problemlos realisiert werden.
Diese Produkte wurden auch regelmäßig auf der Mailänder Messe präsentiert.
Was die Vermarktung der Aufzüge betrifft, war das Konzept genauso klar definiert. Um Stigler Aufzüge weltweit anbieten zu können wurde mit Lizenzpartnern gearbeitet.
Diesen wurden das Konstruktion Know-How zur Verfügung gestellt. Produktion und Montage erfolgten durch den Lizenzpartner.
Das war mit geringem finanziellen Aufwand für den Familienbetrieb umsetzbar. Denn Augusto Stigler Senior wollte trotz des weltumspannenden Vertriebs, die Struktur eines Familienbetriebs waren und nicht zum unpersönlichen Konzern werden. Dies entspricht auch ganz dem Familienbewusstsein der Italiener. Eventuell auch ein Grund das Stigler in Italien so gut angenommen wurde.
Die Stigler Vertretung in Wien
In Wien übernahm Ingenieur Th. d` Ester ab 1891 diese Vertretung.
Während die Geschäftsinhabung im Laufe der Jahrzehnte mehrmals wechselte, blieb der Lizenzvertrag mit der Officine-Meccaniche-Stigler bis 1947 aufrecht.
Alle Maschinen-Teile wurden im ab 1914 existierenden Wiener-Werk in der Schlachthausgasse 15-17 selbst hergestellt.
Elektromobilität Marke Stigler
Marco zieht sehr enthusiastisch einen weiteren Stapel Fotos aus seinem Aktenkoffer.
„Da werdet ihr jetzt Augen machen“ schickte er als Ankündigung vorraus.
Und in der Tat hatten wir damit nicht gerechnet. Auf den Fotos waren unzählige Modelle von Transportfahrzeugen für Lasten und Personen mit rein elektrischem Antrieb.
Die Palette reichte vom Stapler ähnlichen Transportwagen welcher am Hafen von Triest abgelichtet wurde, über allerlei witzig aussehendes Hebe und Transportgerät bis hin zu Kleinbussen für Hotels und Taxis.
Alleine die Stadt Mailand bestellte 50 Stück solcher elektrischen Taxis, welche bei guten Straßenverhältnissen bereits eine Reichweite von 90 Kilometern vorweisen konnten, erzählt uns Marco.
Bei einer Ausschreibung für elektrische Oberleitungsbusse für die Stadt Turin kam Stigler aber leider nicht zum Zug. Hier machte Fiat das Rennen.
Auf ein baldiges Wiedersehen
Fasziniert sind wir nach einem über zehnstündigen Gespräch mit Marco und seinem Bruder Oliver nun reif fürs Bett um alle neuen Eindrücke und Informationen einmal zu verarbeiten.
Bereitwillig stellt uns Marco Stigler alle seine in mühsamer Kleinarbeit recherchierten Unterlagen für unsere Dokumentationsarbeit zur Verfügung.
Dafür ein großes Dankeschön!
Mit unseren vier Stigler Aufzügen und einem Stigler Paternoster haben wir am Tag der offenen Aufzugs-Tür am 18. September 2021 viel vor. Wir möchten euch einen Eindruck von der „Mailänder-Messe“ aus den 1920er Jahren geben.
Wenn du neugierig geworden bist, melde dich am besten gleich hier an.